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Mutmach-Geschichte zum 3. Advent 2022

Vorlesen

Abend im Herbst

Ein gut gedeckter Tisch, geblümte Teetassen und halbvolle Weingläser, dazwischen eine Flasche Sekt, irgendwer hat sie mit Urlaubsbildern bemalt, als Erinnerung an den letzten Sommerausflug. Ein unbeschwerter Abend im Herbst, buntes Durcheinander, Kennenlernen, die meisten haben sich vorher noch nie gesehen.

Tanja ist aus der Ukraine geflohen, mit ihrer kleinen Tochter, sie ist Künstlerin. Sie wollte nicht kommen heute Abend. Sie fürchtete, ich könnte Russin sein. Meinen Namen gibt es dort öfter. Ihre Mitbewohnerin überredete sie, zumindest einmal reinzuschauen.

„Ich bin Russin“ beginnt ihre Tischnachbarin. Ich halte kurz den Atem an. Das ist jetzt nicht wahr. Nebeneinander. Ausgerechnet. Dann „Ich bin vor Jahren gegangen, weil ich die alltägliche Ausgrenzung als Minderheit nicht mehr ertragen konnte.“ Mein Aufatmen. Erfahrungen werden ausgetauscht. Zwei Stühle weiter eine junge Frau, die heute aufblüht. Die letzten Monate war sie einsam; in einem neuen Land, ohne Sprachkenntnisse, kleine Stadt, wenig Vielfalt. Es hat einfach nicht funktioniert, mit dem Anschluss finden. Obwohl gerade sie in der Gemeinschaft einer Gruppe richtig auflebt; es schafft, dass jeder sich willkommen fühlt.

Die Vielfalt der Frauen an diesem Tisch, die leisen und die lauten, alle bringen ihre Ängste und Sorgen mit, um ihre Lieben, ihre Sehnsucht nach Heimat und nach Gerechtigkeit, nach Frieden, eine war gestern noch im Krankenhaus. Dieser Tisch erscheint mir wie ein kleines Wunder.

Dabei habe ich mich wochenlang gedrückt vor der Einladung. Was, wenn niemand kommt? Was, wenn sich niemand versteht? Was, wenn …

quiet down i begged my mind                           sei still flehte ich meinen verstand an
            your overthinking is                                          dein zu viel denken
            robbing us of joy                                              raubt uns die freude
(rupi kaur)

… über die Weihnachtsfeiertage suche ich mir eine schöne Karte und schreibe einen lieben Gruß an einen guten Freund, den ich lange nicht mehr gesehen habe. Nur einen, ganz kurzen.

Die Mutmachgeschichten stammen von Mitgliedern der Arbeitsgruppe Öffentlichkeitsarbeit und des Vorstandes der TelefonSeelsorge Deutschland.
Für das Foto danken wir: instagram.com/landschaftsfotografie_by_nadin

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